Seit Jahrzehnten wirken Digitalisierung und Globalisierung auf den Arbeitsmarkt und die Art wie Menschen Produktivität, Sinn und Beschäftigung begreifen. Die Corona-Krise verdeutlichte wie weit diese Trends bereits fortgeschritten sind – und dass die Balance zwischen neuer Flexibilität und klassischen Arbeitsmodellen keine leichte sein wird.
Alice Greschkow
ist Autorin, Speakerin und Beraterin spezialisiert auf die Transformation der Arbeitswelt
Lebenslanges Lernen ist sowohl politisch wie wirtschaftlich zu einem Mantra geworden, das Menschen dazu animieren soll, stets an ihren Fähigkeiten zu arbeiten. Insbesondere der technologische Wandel vollzieht sich mit einer dermaßen schnellen Geschwindigkeit, dass Lernen zur Grundbedingung wird, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen Allerdings: Auch wenn lebenslanges Lernen an sich sinnvoll klingt, so leben viele Betriebe und Arbeitnehmer in Deutschland eine andere Realität. Menschen werden entsprechend ihrer Berufserfahrung eingestellt und der gerade Lebenslauf ist Personalern noch immer lieber als eine Biografie mit Brüchen und Experimenten. Diese Haltung ist auch verständlich: In Deutschland sind die Menschen zurecht darauf stolz, dass die betrieblichen Ausbildungen und die fachlichen Spezialisierungen dazu beigetragen haben, dass hierzulande Produkte auf höchstem Niveau hergestellt und exportiert werden. Doch dieses Muster wird auf gewisse Art und Weise zunehmend zu einem Problem.
Automatisierung und Technologien wie das Internet der Dinge werden die Effizienz in vielen Branchen merklich steigern können – und die Rolle des Menschen in mechanischen Prozessen minimieren. Gleichzeitig entstehen neue Zukunftsbranchen um Künstliche Intelligenz, FinTech und Blockchain und auch in klassischen Branchen wie Marketing und Medizintechnik gibt es massive digitale Entwicklungen in kurzer Zeit. Arbeitnehmer müssen flexibel und lernbereit sein – und vielleicht auch Altes loslassen. Aus-, Weiter- und Fortbildungen sind hilfreich und wichtig – Mut und Experimentierfreude sind jedoch entscheidend, wenn der Arbeitsmarkt sich immer schneller wandelt. Es wird künftig kein guter Rat sein nur auf Zertifikate und Abschlüsse zu schauen. Natürlich werden in Bereichen wie Medizin oder Ingenieurwesen weiterhin Spezialisten mit Erfahrung essenziell sein. Doch viele Berufe, insbesondere in neuen, digitalen Branchen, erfordern Dynamik und Lernbereitschaft. Wenn Personaler Quereinsteiger und Autodidakten ohne Zertifikate abstraft, verliert die Wirtschaft im Zweifel motivierte Talente. Wer sich einen Branchenwechsel zugetraut hat, tut dies nicht aus Gemütlichkeit, sondern aus Hoffnung und Tatendrang.
Flexibilität darf nicht zum goldenen Kalb werden
Mit Millionen von Menschen, die 2020 erstmals aus dem Homeoffice gearbeitet haben, ist remote work mitten in das Bewusstsein der präsenzliebenden Deutschen gerückt. Manche Unternehmen entschieden sogar, dass „remote first“ die Norm sein wird und man nur noch zu bestimmten Anlässen ab und zu persönlich aufeinandertrifft. Ob in einem Büro, Coworking-Space oder in einem Ferienhaus bei einem Team-Event – alles soll möglich sein, solange jeder seinen eigenen individuellen Rhythmus im Alltag pflegen kann. Remote work und die damit einhergehende Flexibilität hat natürlich Vorteile – insbesondere, wenn keine Pandemie herrscht. Man spart den Pendelweg, kann längere schlafen, hat mehr Zeit für Familie, Freunde und Hobbies und kann arbeiten, wo man sich selbst am produktivsten fühlt. Bei dieser Freiheit passiert es natürlich, dass auch die Arbeitszeiten ausufern. Doch, wenn das selbst gewählt ist, fühlt es sich nicht belastend – zumindest zunächst.
Erste Studien weisen darauf hin, dass das Gefühl der Entgrenzung der Arbeit im Homeoffice zunehmen kann – nicht nur wegen der pandemiebedingten Kopplung mit Homeschooling. Es fehlt der Heimweg zum Runterfahren oder die räumliche Trennung des Arbeitsplatzes vom Privatraum – insbesondere, wenn man kein separates Arbeitszimmer hat. Und mit der Zeit kann es wirklich einsam werden. Es ist nicht leicht die Balance zwischen neugewonnen Freiheiten und schleichender Belastung aufgrund von fehlenden räumlichen und zeitlichen Strukturen zu halten. Flexibilität in der Arbeitswelt ist ein enormer Gewinn unserer Zeit, darf jedoch nicht zum goldenen Kalb erhoben werden. Die Langzeiteffekte der Flexibilität zeigen sich nämlich erst in der Zukunft.
Mehr Mut, mehr Ehrlichkeit
Die Arbeitswelt kann eine gute Portion Mut und Ehrlichkeit gebrauchen. Sie befindet sich nämlich in einer derart intensiven und schnellen Transformation, dass sowohl Flexibilität und Experimentierfreude nötig sind als auch die Ehrlichkeit auszusprechen, welche alten Arbeitsweisen nicht mehr funktionieren – und welche neuen Trends nicht zum neuen Standard erhoben werden dürfen. Flexibilität darf nicht zulasten des Arbeitnehmerschutzes ausufern. Credentialism darf Innovation nicht verhindern. Zwischen den Polen finden sich die Kompromisse – nun müssen sie ausgehandelt werden.
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