Wie die Statistiken der gesetzlichen Krankenkassen zeigen, nimmt der Anteil psychischer Erkrankungen an den Arbeitsunfähigkeitstagen kontinuierlich zu. Anhand von Daten der DAK illustriert Abb. 1 diese Entwicklung. Daneben steigen die Anteile der Personen, die erstmals eine Erwerbsminderungsrente infolge psychischer Erkrankung erhalten[1].
Prof. Dr. Gudrun Faller
Mitglied des Vorstands im Bundesverband Betriebliches Gesundheitsmanagement e.V.
Gründe für diese Entwicklungen liegen darin, dass psychische Erkrankungen heute weniger tabuisiert sind als früher, was dazu führt, dass sie von betroffenen Personen eher offenbart und von ärztlicher Seite häufiger erkannt und diagnostiziert werden1. Darüber hinaus deutet vieles darauf hin, dass Transformationsprozesse im Arbeitsleben einen nicht zu unterschätzenden Anteil an den dargestellten Entwicklungen haben. Eine Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse, mangelnde Planbarkeit und widersprüchliche Arbeitsanforderungen, Multitasking und Zeitdruck sind Ausdruck einer sich wandelnden Arbeitswelt.
So kommt eine repräsentative Langzeitstudie der BAuA mit rund 20.000 Beschäftigten zu dem Ergebnis, dass sich die Arbeitsintensität seit über zehn Jahren auf einem hohen Niveau bewegt und die daraus resultierende subjektive Belastung bei den Beschäftigten zugenommen hat. Zudem sind Merkmale gestörter Erholungsprozesse bei den Erwerbstätigen weit verbreitet[2].
Parallel dazu sind in den letzten Jahrzehnten die Anteile prekärer Beschäftigungsverhältnisse angestiegen[3]. Aus diesen resultieren sowohl soziale Notlagen trotz Arbeit, als auch disziplinierende Wirkungen auf die nicht prekär Beschäftigten[4].
Angesichts dieser Entwicklung sind Maßnahmen, die nur am Gesundheitsverhalten oder der Erholungsfähigkeit von Beschäftigten ansetzen, nicht ausreichend. Notwendig sind vielmehr nachhaltige betriebliche Veränderungsprozesse, welche auf die arbeitsbedingten Ursachen beeinträchtigter Gesundheit fokussieren. Letztere sind gemeinsam mit den Beschäftigten zu erfassen und zu bewerten. Aus den Ergebnissen dieser Beurteilung sind in Abstimmung mit den Betroffenen und den betrieblich verantwortlichen Personen angemessene Maßnahmen abzuleiten und umzusetzen. Auf gesellschaftlicher Ebene ist es flankierend notwendig, soziale Sicherheit und Gesundheitsschutz zu stärken und damit der sich vertiefenden sozialen Spaltung entgegenzuwirken.
Unabhängig davon, welche Faktoren für die Zunahme der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen letztlich ausschlaggebend sind und welche Positionen hierzu von den Akteur*innen vertreten werden, ist offensichtlich, dass psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit mit erheblichen Kosten für Unternehmen, Versorgungseinrichtungen, Verwaltungen, Krankenkassen und Rentenversicherung einhergeht[5].
Bei der Implementierung von entsprechenden, an den arbeitsbedingten Ursachen ansetzenden Interventionen geht es daher nicht allein um Teilhabe und Humanität in der Arbeitswelt, sondern um schlichte ökonomische Notwendigkeiten ebenso wie um Gestaltungsansätze für die, in eine neue historische Phase einmündende gesellschaftliche Konstitution von Arbeit.
Sie möchten mehr erfahren?
[1] https://www.deutsche-rentenversicherung.de/Bund/DE/Presse/Pressemitteilungen/pressemitteilungen_archive/2021/2021_11_30_psych_erkrankungen_erwerbsminderung.html
[2] BAuA (2020). Stressreport Deutschland 2019: Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
[3] Faller G. (2020). Atypische Beschäftigung – ein Handlungsfeld für Prävention und Gesundheitsförderung bei der Arbeit. Public Health Forum, 28 (2) 117-120.
[4] Dörre K. (2006) Prekäre Arbeit und soziale Desintegration. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29490/prekaere-arbeit-und-soziale-desintegration/
[5] Badura, B. (2021). Prävention schützt die Bevölkerung und stützt die Wirtschaft. In Badura B.; Ducki A.; Schröder H.; Meyer M. (Eds.), Fehlzeiten-Report 2021: Betriebliche Prävention stärken – Lehren aus der Pandemie. Berlin, Heidelberg: Springer, S. 163-168.